Reisen, auch Dienstreisen sind immer wieder ein Erlebnis. Nicht nur am Zielort erlangt man viele neue Eindrücke, schon die Fahrt dorthin kann wundersame Erlebnisse mit sich bringen. Gestern war ich dienstlich auf dem Weg nach Bielefeld. Nun ist es dem Beamten Pflicht – offensichtlich anders als beispielsweise Politikern – bei einer dienstlichen Reise möglichst wenig Aufwand zu betreiben und somit die Kosten klein zu halten.
Von meinem Heimatort nach Bielefeld führt der einfachste Weg über das Schienennetz der Deutschen Bahn. Sechsundzwanzig Minuten mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof Hannover und von dort nach fünfzehn Minuten Aufenthalt weitere fünfzig Minuten mit dem ICE nach Bielefeld. Da spare ich nicht nur Zeit sondern auch Nerven, sofern ich in der Lage bin, mich mental auf „Verzögerungen im Betriebsablauf“ einzustellen.
Zudem kostet es weder mich noch der Landeskasse einen Cent, da ich in Uniform reisend zur Hebung der Sicherheit im Reiseverkehr der Deutschen Bahn beitrage.
Es ist schon eigenartig, wenn man in Uniform auf einem Bahnsteig steht und auf den Zug wartet. Zwei ältere Damen, die eben noch in einem intensiven Austausch über ihre Zipperlein vertieft waren, unterbrachen das Gespräch als sie mich sahen, um mir freundlich „Guten Tag!“ zu sagen. Drei Jugendliche, die sich eben anschickten, sich über die beiden Damen lustig zu machen, verfielen reflexartig in das wohl instinktgesteuerte Verhaltensmuster, möglichst viel Abstand zwischen sich und dem Bullen zu bringen. Für mich nur allzu verständlich, zumal einer der drei noch am Wochenende in einem Anflug alkoholverstärkten Größenwahns der Meinung war, mir und meinen Kollegen einen vorräubern zu müssen.
Und dann war da noch ER, ein Typ Marke „alt gewordener 68iger!“ Der Kopf von grau melierten Locken umhüllt, dazu ein Vollbart, dessen gepflegter Schnitt nicht ganz in das Bild passen wollte. Seine Kleidung war eine angemessene Mischung aus ökologisch wertvoll und halbwegs situiert in hellbraunen und grünen Tönen gehalten. Auf der Nase vermittelte eine dezente Brille einen Anflug von Intellektualität.
Mit dieser Gestalt verband sich in mir die Vorstellung eines Studiums der Germanistik und Kunst mit dem Willen, eine so hochqualifizierte Ausbildung maximal in einem Halbtagsjob zu vergeuden, also auf Lehramt.
Während ich diesen Menschen aus den Augenwinkeln betrachtete, vernahm ich aus seinem Mund ein Reihe von Lauten, die sich wohl zu einer Melodie formen sollten: „Dum, dumdidumdum, dum, dum, didumdidum, dum di …“ Musik hatte der Mann auf keinen Fall studiert. Da war ich mir sicher. Dazu bewegten sich seine Füße in kleinen Schritten, aus denen ich eine Art Langsamer Walzer/Quickstep mit eingespieltem Chachacha erkennen konnte. Offensichtlich war der Mann am Vorabend noch zur Tanzschule gewesen und versuchte nun das Gelernte einigermaßen umzusetzen. Der Mensch kommt halt auf die eigenwilligsten Ideen, um sich eine ungewollte Wartezeit zu verkürzen.
Irgendwann kam die S-Bahn nach den obligatorischen 10 Minuten Verzögerung im Betriebsablauf an und der vermeintliche Lehrer unterbrach seine Darbietung, um in den Zug zu steigen. Der Zufall wollte es, dass er mir gegenüber auf der anderen Seite des Mittelganges Platz nahm.
Während ich meine Reiselektüre aus der Tasche kramte, zog er die Schuhe aus und legte die Füße auf den Sitz vor sich. Nun habe ich mal gelernt, dass das Hochlegen der Füße kein Ausdruck der Flegelhaftigkeit sondern mehr als Maßnahme zur Gesunderhaltung zu werten ist. Immerhin hatte meine scheinintellektuelle Reisebegleitung den Anstand besessen, seine verkeimten Botten auf dem Boden zu lassen.
Als mir jedoch nach wenigen Minuten das Odeur eines in die Jahre gekommenen Romadur in die Nasenflügel kroch, sah mich genötigt, den Herrn anzusprechen: „Entschuldigen Sie!“, sagte ich. „Fänden Sie es toll, sich in einen derart vermockerten Sitz setzen zu müssen?“
Der Mann zog indigniert eine Augenbraue nach oben: „Wie meinen?“, näselte er zurück.
Hmmm, dachte ich. Entweder hat er ein äußerst dickes Fell oder er ist intellektuell auf derart anderer Ebene, dass er den dezentbürgerlichen Hinweis auf seine Käsefüße tatsächlich nicht verstanden hat. Also versuchte ich es auf andere Art: „Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber die olfaktorischen Emissionen ihrer untersten Extremitäten affizieren meine nasale Mukosa in nicht hinnehmbarer Weise.“
Das Fragezeichen auf seiner Stirn war nun deutlich zu erkennen. Seine kurze Erwiderung sprach Bände: „Hä?“
In diesem Moment bekam ich ungeahnte Hilfe. Eine der beiden älteren Damen, die mich auf dem Bahnsteig so nett begrüßt hatten, stand plötzlich zwischen uns. „Mein Gott!“, rief sie. „Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Schon drückte sie auf den Knopf ihres Deosprays, welches sie in der Hand hielt, und hüllte den Mann, vor allem aber dessen Füße, in eine Wolke industrieller Frische.
Wie von einer Tarantel gebissen fuhr der Mann aus dem Sitz hoch, schlüpfte in seine Schuhe, packte seine Sachen und ging den Mittelgang hindurch in den hinteren Teil des Zuges, allerdings nicht ohne sich lautstark über die Frechheit seiner Mitmenschen und die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit auszulassen.
Ich nickte der Dame anerkennend zu. Lächelnd sagte sie mir: „Sehen Sie, junger Mann, manchmal hilft das Reden nicht. Da muss man einfach handeln.“